Auge um Auge
Ein Gastbeitrag von Olaf Tannenberg
Kaum mehr als zehn Sekunden verbleiben den Menschen in der südisraelischen Stadt Sderot, um sich nach dem Einsetzen des Sirenengeheuls bei Raketenangriffen in Sicherheit zu bringen - ein erschreckend schmales Zeitfenster, das zwischen Leben und Sterben entscheiden kann.
Der Ort mit knapp 20.000 Einwohnern liegt keine zehn Kilometer vom Gazastreifen entfernt in der Negev-Wüste und wird immer wieder zum Ziel zahlreicher von der radikal-islamischen Hamas abgefeuerter Qassam-Raketen. Obwohl es ein effektives Frühwarnsystem gibt, blieben Opfer nicht aus. Mitte November 2006 starben zwei Menschen, weitere wurden schwer verletzt, im Dezember 2007 waren mehr als 20 Einschläge zu verzeichnen, zwischen Januar und Februar 2008 waren es mehr als 1.000 Raketen, die auf Sderot abgeschossen wurden, wodurch ein weiterer Mensch ums Leben kam. Insgesamt feuerte die Hamas zwischen 2001 und 2009 etwa 8.600 Raketen auf Israel ab, die meisten davon auf Sderot.
Seit dem 11. November werden auch die Einwohner Tel Avivs von den Sirenen des Luftschutzes aufgeschreckt - erstmals seit dem Golfkrieg 1991. In der Küstenmetropole, etwa 75 Kilometer vom Gazastreifen entfernt, schlug mindestens eine Rakete ein. Dies ist ein deutliches Indiz für die Hochrüstung der Hamas durch Waffenlieferungen aus Drittstaaten. Die Unterstützer der Hamas sind bekannt: der Iran, das Emirat Katar und mittlerweile auch Ägypten. Der Arabische Frühling blieb erwartungsgemäß nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Israel und seinen muslimischen Nachbarn.
Nach den Angriffen mit mehr als 450 Raketen innerhalb von 24 Stunden schlug Israel mit gewohnter und vielkritisierter Härte zurück und startete die Operation ›Säule der Verteidigung‹. Etwa 150 Ziele im Gazastreifen wurden angegriffen, 16.000 Reservisten einberufen, Kampfpanzer und andere schwere Waffensysteme an die Grenze verlegt. Am 14. November 2012 starb Ahmed al-Dschabari, der Militärchef der Hamas, während eines gezielten Angriffs. Seither droht der Konflikt zu eskalieren, ein Krieg zwischen den ungleichen Mächten scheint unausweichlich zu sein.
Die Hamas und der Gazastreifen
Hamas ist gleichzeitig das arabische Wort für ›Eifer‹ und ein Akronym für ›Islamischer Widerstand‹. Gegründet wurde die Organisation als Abspaltung der Muslimbruderschaft im Jahre 1987. Die sunnitisch-islamistische Gruppierung besteht aus einer politischen Partei, einer Wohltätigkeitsorganisation und den paramilitärischen Qassam-Brigaden. Ihr erklärtes Ziel ist die Beseitigung des Staates Israel mit terroristischen Mitteln und die Errichtung eines theokratischen Staates Palästina. Seit 1993 begehen Hamas-Mitglieder Selbstmordanschläge und andere Attacken auf israelische Zivilisten und Soldaten. Die USA, die EU und weitere Staaten werten die Hamas als Terrororganisation. Im Jahre 2006 ging die Hamas als Wahlsieger im Gazastreifen hervor und übernahm die Regierung in diesem Teil der autonomen Palästinensergebiete. Im Sommer 2007 kam es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen der Hamas und den Milizen der gemäßigten Fatah. Letztere unterlagen und flohen nach Ägypten bzw. ins Westjordanland. Die Hamas-Quartiere befinden sich in Wohngebieten, zwischen Krankenhäusern und Schulen, woraus die hohe Zahl der zivilen Opfer unter den Palästinensern resultiert.
Im von Israel streng abgeriegelten Gazastreifen leben auf rund 360 Quadratkilometern mehr als 1,5 Millionen Menschen dicht gedrängt zusammen. Die Bevölkerungsdichte ist mit der Berlins vergleichbar. Jeder dritte Einwohner ist in einem der acht Flüchtlingslager der UNRWA [1] untergebracht. Bis zu 80.000 Personen leben dort auf einem Quadratkilometer. Mehr als 80 Prozent der Menschen im Gazastreifen haben Einkünfte unterhalb der Armutsgrenze, etwa 70 Prozent können ihren täglichen Nahrungsbedarf ohne fremde Hilfe nicht decken. Das Durchschnittsalter beträgt knapp 18 Jahre. In dieser mit Armut, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsniedergang angereicherten Atmosphäre der Trostlosigkeit gedeihen Hass und Gewalt. Die Hamas steht überdies unter dem Druck von islamistischen Gruppen, die noch radikaler sind als sie. Will sie die Kontrolle über den Gazastreifen behalten, muss sie selbst gegen den gemeinsamen Erzfeind Israel vorgehen.
Ägypten zwischen Vermittlung und Parteinahme
Während der Herrschaft Husni Mubaraks in Ägypten war Israel ein willkommener Verbündeter gegen die Muslimbruderschaft, von der die Hamas abstammt. Der heutige Präsident und ehemalige Muslimbruder Mohammed Mursi bedient hingegen ein breites Spektrum zwischen »Der Koran ist unsere Verfassung. Der Prophet ist unser Führer. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.« und »Ich will einen demokratischen, zivilen und modernen Staat.« Bekannt ist seine Teilnahme an einem antisemitischen Gebet. [2]
Es wird sich erweisen, ob Ägyptens künftig die Rolle des Vermittlers oder der Konfliktpartei übernimmt. Ministerpräsident Kandil, der am 16. November 2012 in den Gazastreifen reiste, konnte keinen Waffenstillstand erreichen, sondern versicherte stattdessen die Verbundenheit Ägyptens mit der Hamas und sagte den Palästinensern die Unterstützung seines Landes zu. In Tel Aviv hört man dies mit großer Besorgnis.
So sehr auf beiden Seiten der Wunsch nach Frieden und Sicherheit dominiert, so wenig sind die Konfliktparteien zur Versöhnung bereit. Immer wieder prasseln die Raketen der Hamas auf Israel nieder, immer wieder schlagen die israelischen Streitkräfte mit aller Härte zurück. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verschwimmen. Doch welcher der beiden Seiten ist jemals selbst Recht und Gerechtigkeit widerfahren?
Es bleibt die vage Hoffnung auf beiderseitige Einsicht und auf die Rückkehr an den Verhandlungstisch. Zu erwarten ist beides derzeit wohl nicht. Als Christen bleibt uns wie so oft allein das Gebet um den Frieden in dieser seit Jahrzehnten zerrissenen Region - oder wenigstens um das Schweigen der Waffen.
Bis die Toten begraben sind.
[1] Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten
[2] Quelle: https://www.domradio.de/news/84670/aegyptens-praesident-mursi-wegen-antisemitischen-gebets-in-der-kritik.html
Kaum mehr als zehn Sekunden verbleiben den Menschen in der südisraelischen Stadt Sderot, um sich nach dem Einsetzen des Sirenengeheuls bei Raketenangriffen in Sicherheit zu bringen - ein erschreckend schmales Zeitfenster, das zwischen Leben und Sterben entscheiden kann.
Der Ort mit knapp 20.000 Einwohnern liegt keine zehn Kilometer vom Gazastreifen entfernt in der Negev-Wüste und wird immer wieder zum Ziel zahlreicher von der radikal-islamischen Hamas abgefeuerter Qassam-Raketen. Obwohl es ein effektives Frühwarnsystem gibt, blieben Opfer nicht aus. Mitte November 2006 starben zwei Menschen, weitere wurden schwer verletzt, im Dezember 2007 waren mehr als 20 Einschläge zu verzeichnen, zwischen Januar und Februar 2008 waren es mehr als 1.000 Raketen, die auf Sderot abgeschossen wurden, wodurch ein weiterer Mensch ums Leben kam. Insgesamt feuerte die Hamas zwischen 2001 und 2009 etwa 8.600 Raketen auf Israel ab, die meisten davon auf Sderot.
Seit dem 11. November werden auch die Einwohner Tel Avivs von den Sirenen des Luftschutzes aufgeschreckt - erstmals seit dem Golfkrieg 1991. In der Küstenmetropole, etwa 75 Kilometer vom Gazastreifen entfernt, schlug mindestens eine Rakete ein. Dies ist ein deutliches Indiz für die Hochrüstung der Hamas durch Waffenlieferungen aus Drittstaaten. Die Unterstützer der Hamas sind bekannt: der Iran, das Emirat Katar und mittlerweile auch Ägypten. Der Arabische Frühling blieb erwartungsgemäß nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Israel und seinen muslimischen Nachbarn.
Nach den Angriffen mit mehr als 450 Raketen innerhalb von 24 Stunden schlug Israel mit gewohnter und vielkritisierter Härte zurück und startete die Operation ›Säule der Verteidigung‹. Etwa 150 Ziele im Gazastreifen wurden angegriffen, 16.000 Reservisten einberufen, Kampfpanzer und andere schwere Waffensysteme an die Grenze verlegt. Am 14. November 2012 starb Ahmed al-Dschabari, der Militärchef der Hamas, während eines gezielten Angriffs. Seither droht der Konflikt zu eskalieren, ein Krieg zwischen den ungleichen Mächten scheint unausweichlich zu sein.
Die Hamas und der Gazastreifen
Hamas ist gleichzeitig das arabische Wort für ›Eifer‹ und ein Akronym für ›Islamischer Widerstand‹. Gegründet wurde die Organisation als Abspaltung der Muslimbruderschaft im Jahre 1987. Die sunnitisch-islamistische Gruppierung besteht aus einer politischen Partei, einer Wohltätigkeitsorganisation und den paramilitärischen Qassam-Brigaden. Ihr erklärtes Ziel ist die Beseitigung des Staates Israel mit terroristischen Mitteln und die Errichtung eines theokratischen Staates Palästina. Seit 1993 begehen Hamas-Mitglieder Selbstmordanschläge und andere Attacken auf israelische Zivilisten und Soldaten. Die USA, die EU und weitere Staaten werten die Hamas als Terrororganisation. Im Jahre 2006 ging die Hamas als Wahlsieger im Gazastreifen hervor und übernahm die Regierung in diesem Teil der autonomen Palästinensergebiete. Im Sommer 2007 kam es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen der Hamas und den Milizen der gemäßigten Fatah. Letztere unterlagen und flohen nach Ägypten bzw. ins Westjordanland. Die Hamas-Quartiere befinden sich in Wohngebieten, zwischen Krankenhäusern und Schulen, woraus die hohe Zahl der zivilen Opfer unter den Palästinensern resultiert.
Im von Israel streng abgeriegelten Gazastreifen leben auf rund 360 Quadratkilometern mehr als 1,5 Millionen Menschen dicht gedrängt zusammen. Die Bevölkerungsdichte ist mit der Berlins vergleichbar. Jeder dritte Einwohner ist in einem der acht Flüchtlingslager der UNRWA [1] untergebracht. Bis zu 80.000 Personen leben dort auf einem Quadratkilometer. Mehr als 80 Prozent der Menschen im Gazastreifen haben Einkünfte unterhalb der Armutsgrenze, etwa 70 Prozent können ihren täglichen Nahrungsbedarf ohne fremde Hilfe nicht decken. Das Durchschnittsalter beträgt knapp 18 Jahre. In dieser mit Armut, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsniedergang angereicherten Atmosphäre der Trostlosigkeit gedeihen Hass und Gewalt. Die Hamas steht überdies unter dem Druck von islamistischen Gruppen, die noch radikaler sind als sie. Will sie die Kontrolle über den Gazastreifen behalten, muss sie selbst gegen den gemeinsamen Erzfeind Israel vorgehen.
Ägypten zwischen Vermittlung und Parteinahme
Während der Herrschaft Husni Mubaraks in Ägypten war Israel ein willkommener Verbündeter gegen die Muslimbruderschaft, von der die Hamas abstammt. Der heutige Präsident und ehemalige Muslimbruder Mohammed Mursi bedient hingegen ein breites Spektrum zwischen »Der Koran ist unsere Verfassung. Der Prophet ist unser Führer. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.« und »Ich will einen demokratischen, zivilen und modernen Staat.« Bekannt ist seine Teilnahme an einem antisemitischen Gebet. [2]
Es wird sich erweisen, ob Ägyptens künftig die Rolle des Vermittlers oder der Konfliktpartei übernimmt. Ministerpräsident Kandil, der am 16. November 2012 in den Gazastreifen reiste, konnte keinen Waffenstillstand erreichen, sondern versicherte stattdessen die Verbundenheit Ägyptens mit der Hamas und sagte den Palästinensern die Unterstützung seines Landes zu. In Tel Aviv hört man dies mit großer Besorgnis.
So sehr auf beiden Seiten der Wunsch nach Frieden und Sicherheit dominiert, so wenig sind die Konfliktparteien zur Versöhnung bereit. Immer wieder prasseln die Raketen der Hamas auf Israel nieder, immer wieder schlagen die israelischen Streitkräfte mit aller Härte zurück. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verschwimmen. Doch welcher der beiden Seiten ist jemals selbst Recht und Gerechtigkeit widerfahren?
Es bleibt die vage Hoffnung auf beiderseitige Einsicht und auf die Rückkehr an den Verhandlungstisch. Zu erwarten ist beides derzeit wohl nicht. Als Christen bleibt uns wie so oft allein das Gebet um den Frieden in dieser seit Jahrzehnten zerrissenen Region - oder wenigstens um das Schweigen der Waffen.
Bis die Toten begraben sind.
[1] Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten
[2] Quelle: https://www.domradio.de/news/84670/aegyptens-praesident-mursi-wegen-antisemitischen-gebets-in-der-kritik.html
ElsaLaska - 16. Nov, 17:52