Imago
Und deine Unfruchtbarkeit ist die Unfruchtbarkeit der Schmetterlingspuppe. Aber du wirst wieder geboren werden, verschönt von den Bäumen. Auf dem Gipfel des Berges, wo deine Probleme gelöst sind, wirst du sagen: „Wie war es möglich, dass ich's anfangs nicht verstanden habe?" Als ob es anfangs etwas zu verstehen gegeben hätte. Antoine de Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste
Die alleinstehende Ingeborg Klestila war auf Inspektionsreise für den Europäischen Rat in Nord-Ossetien gewesen, als ihr in Wladikawkas eine dralle Inguschin ein schreiendes Bündel auf den Arm legte und wortlos davonging. Frau Klestila wickelte neugierig die braune Steppdecke auseinander, nahm das rothaarige Mädchen mit nach Deutschland und taufte es auf den Namen Chrysalie. Der Adoptionsantrag wurde nach einigem Hin und Her bewilligt.
Wenn sie nicht auf Reisen waren, bewohnten Mutter und Tochter eine baufällige Windmühle ohne Windrad an der holsteinischen Küste. Immer wenn in der Nacht ein Sturm aufkam, erinnerte sich das gebrechliche Holzhaus an seine einstige Bestimmung: dann fuhr der Wind um die Mühle herum wie um einen Ozeandampfer, die uralte Balkenkonstruktion pflügte sich wie eine Barkasse durch die Luftwirbel, und die kleine Chrysalie träumte von Eisbrechern vor Feuerland und Leuchttürmen in meterhoher Brandung. Sie schlief in einem Zimmer unter dem Dach mit Fotos von den Geschlechtertürmen in San Gimignano und Bauplänen von bretonischen Leuchttürmen. Ihr Schlaf wurde von den Petronas Towers bewacht und auf ihrem Lieblingsbild fanden sich die Towers of Silence, in denen die Parsen in Bombay ihre Toten aufhängen, damit die Leichen nicht die Erde beschmutzen.
Sie sehnte sich danach, einen Turm zu bewohnen, dessen Tür sie verschließen und dessen Eingang sie vermauern konnte. Den sie dann hochsteigen, nie mehr verlassen und von dessen Fenster sie Pech hinabgießen würde, wenn jemand unten stünde.
Als Chrysalie 14 Jahre alt geworden war, engagierte Ingeborg, die vom Wert einer zweisprachigen Erziehung überzeugt war, eine porzellanhäutige englische Gouvernante. Die liebenswürdige Miss Peel schenkte ihrer Schülerin das erste Schmetterlingsnetz; eine Enzyklopädie der Nachtfalter wollte Chrysalie schreiben.
Also gingen sie mit einer brennenden Petroleumlampe in die Julinächte, streiften über die Wiesen und Felder und schüttelten zuhause ihre fast knielangen Haare kopfüber auf einem weißen Laken aus. Darauf landeten neben Glühwürmchen und Grassamen auch ein paar Silbermönche oder Grüne Eicheneulchen. Chrysalie zeichnete und katalogisierte die Beute bis zum Morgengrauen. Miss Peel schlief bei ihr im Bett, sammelte ihre Haare vom Kopfkissen und fertigte daraus Fußringe für die Falter an, damit Chrysalie erkennen konnte, ob sie dieses Nachtpfauenauge oder jene Pronuba schon einmal gefangen und skizziert hatte.
Ingeborg Klestila entließ Miss Peel kurzerhand, als sie einmal unerwartet von einer Reise aus Ruanda zurückkehrte und Gouvernante mit Schülerin im Bett vorfand. Das Abschiedsgeschenk für Chrysalie, einen Vogelkäfig mit einer Wacholderdrossel darin, durfte Miss Peel nicht mehr selbst überreichen.
Die besorgte Mutter veranlasste die Umquartierung ihrer halbwüchsigen Tochter in einen verlassenen Turm an der Ostseeküste, im Hinterland von Wismar. Chrysalie lebte dort einsam zwischen ihren Notizen und handkolorierten Zeichnungen von Schwärmern, Wicklern und Federgeistchen. Sie hatte ihr Haar, das seit Miss Peels Abschied wie ein Dutzend Kupferottern von ihrem Kopf herabhing, nicht mehr zum Faltersammeln benutzt und stellte stattdessen eine Laterne ins offene Fenster, um die Tierchen anzulocken. Die Ausbeute war mager, aber so sparte sich Chrysalie den Weg hinaus aufs Feld: die vielen Treppen waren anstrengend; und sie verließ den Turm nur noch ein Mal die Woche, um etwas geräucherten Fisch, Roggenbrot oder Wein einzukaufen.
Ihre Mutter schrieb aus Ruanda – Chrysalie zog die Post mit einem Körbchen an einer Leine hinauf. Ihre Bewegungen wurden träger, die Reaktionen verlangsamten sich und es kam der Tag, an dem ihre Finger nicht einmal mehr den Kohlestift halten konnten. In der darauffolgenden Nacht träumte sie von einem Kokon aus Bronzefäden, in dem sie matt verglühte.
Nur mühsam konnte sie am nächsten Morgen die Augen öffnen, an Aufstehen war fast eine Stunde lang gar nicht zu denken. Sie wollte den Turm verlassen, ein Haus an der Küste oder auf der Insel Poel mieten, aber was würde dann aus ihrer Enzyklopädie werden? Nein, Chrysalie wollte ihre Arbeit zu Ende bringen, konnte aber oft nur noch ihre Hand aus dem Turmfenster halten, als wäre sie ein polynesischer Navigator, der die Meeresdünung prüft, um mit den Wellenmustern die Position seines Schiffes zu bestimmen.
Die wenigen Nachtfalter, die noch hereingetaumelt kamen, waren ausgezehrt und entkräftet. Mit sparsamen Handgriffen bereitete sie ihnen Honigwasser zur Stärkung und bemerkte dabei rätselhafte Glyphen auf ihren Flügeln, die wie mit Safranstaub aufgepinselt wirkten.
Eines Morgens fand sie die Wacholderdrossel, die schon seit geraumer Zeit nicht mehr sang, am Boden des Käfigs mit weitaufgerissenem Schnabel: verendet bei ihrer letzten Anstrengung, gegen das eigene Schweigen anzusingen. Der Winter kam, und sie unterbrach ihre eigentliche Arbeit, um die Schriftzeichen, die sie auf einigen der Falter gefunden hatte, zu entschlüsseln. In diesen Nächten stand der Mond wie festgenagelt am Himmel, die Schneeflocken bildeten einen eisigen Spitzenvorhang vor ihrem Fenster und die Sterne funkelten nicht mehr. Chrysalie hatte die Botschaft endlich entziffert.
Die traurigen Blütenstaubworte kamen vom königlichen Hüter der Bienen, der seine Verzweiflung auf Falterflügeln in die Nacht hinausgeschickt hatte. Eine Seuche hatte seine Völker ausgerottet: ihre Brut war verfault; und auf der Tafel des Königs von England fehlte seither der Honig.
Chrysalie weinte ruhig, als sie die Botschaft begriff, und wollte dem Hüter antworten. Doch sie war erschöpft von dem langen Winter und fiel in einen dunklen, traumlosen Schlaf, der ihr die Seele heraussog .
Als sie wieder aufwachte, sangen die Lerchen, und Motten hatten Nester in ihrem Haar gebaut. Sie stand auf, rasierte sich den Schädel und packte ihr Bündel.
Dann verließ sie den Turm für immer.
Die alleinstehende Ingeborg Klestila war auf Inspektionsreise für den Europäischen Rat in Nord-Ossetien gewesen, als ihr in Wladikawkas eine dralle Inguschin ein schreiendes Bündel auf den Arm legte und wortlos davonging. Frau Klestila wickelte neugierig die braune Steppdecke auseinander, nahm das rothaarige Mädchen mit nach Deutschland und taufte es auf den Namen Chrysalie. Der Adoptionsantrag wurde nach einigem Hin und Her bewilligt.
Wenn sie nicht auf Reisen waren, bewohnten Mutter und Tochter eine baufällige Windmühle ohne Windrad an der holsteinischen Küste. Immer wenn in der Nacht ein Sturm aufkam, erinnerte sich das gebrechliche Holzhaus an seine einstige Bestimmung: dann fuhr der Wind um die Mühle herum wie um einen Ozeandampfer, die uralte Balkenkonstruktion pflügte sich wie eine Barkasse durch die Luftwirbel, und die kleine Chrysalie träumte von Eisbrechern vor Feuerland und Leuchttürmen in meterhoher Brandung. Sie schlief in einem Zimmer unter dem Dach mit Fotos von den Geschlechtertürmen in San Gimignano und Bauplänen von bretonischen Leuchttürmen. Ihr Schlaf wurde von den Petronas Towers bewacht und auf ihrem Lieblingsbild fanden sich die Towers of Silence, in denen die Parsen in Bombay ihre Toten aufhängen, damit die Leichen nicht die Erde beschmutzen.
Sie sehnte sich danach, einen Turm zu bewohnen, dessen Tür sie verschließen und dessen Eingang sie vermauern konnte. Den sie dann hochsteigen, nie mehr verlassen und von dessen Fenster sie Pech hinabgießen würde, wenn jemand unten stünde.
Als Chrysalie 14 Jahre alt geworden war, engagierte Ingeborg, die vom Wert einer zweisprachigen Erziehung überzeugt war, eine porzellanhäutige englische Gouvernante. Die liebenswürdige Miss Peel schenkte ihrer Schülerin das erste Schmetterlingsnetz; eine Enzyklopädie der Nachtfalter wollte Chrysalie schreiben.
Also gingen sie mit einer brennenden Petroleumlampe in die Julinächte, streiften über die Wiesen und Felder und schüttelten zuhause ihre fast knielangen Haare kopfüber auf einem weißen Laken aus. Darauf landeten neben Glühwürmchen und Grassamen auch ein paar Silbermönche oder Grüne Eicheneulchen. Chrysalie zeichnete und katalogisierte die Beute bis zum Morgengrauen. Miss Peel schlief bei ihr im Bett, sammelte ihre Haare vom Kopfkissen und fertigte daraus Fußringe für die Falter an, damit Chrysalie erkennen konnte, ob sie dieses Nachtpfauenauge oder jene Pronuba schon einmal gefangen und skizziert hatte.
Ingeborg Klestila entließ Miss Peel kurzerhand, als sie einmal unerwartet von einer Reise aus Ruanda zurückkehrte und Gouvernante mit Schülerin im Bett vorfand. Das Abschiedsgeschenk für Chrysalie, einen Vogelkäfig mit einer Wacholderdrossel darin, durfte Miss Peel nicht mehr selbst überreichen.
Die besorgte Mutter veranlasste die Umquartierung ihrer halbwüchsigen Tochter in einen verlassenen Turm an der Ostseeküste, im Hinterland von Wismar. Chrysalie lebte dort einsam zwischen ihren Notizen und handkolorierten Zeichnungen von Schwärmern, Wicklern und Federgeistchen. Sie hatte ihr Haar, das seit Miss Peels Abschied wie ein Dutzend Kupferottern von ihrem Kopf herabhing, nicht mehr zum Faltersammeln benutzt und stellte stattdessen eine Laterne ins offene Fenster, um die Tierchen anzulocken. Die Ausbeute war mager, aber so sparte sich Chrysalie den Weg hinaus aufs Feld: die vielen Treppen waren anstrengend; und sie verließ den Turm nur noch ein Mal die Woche, um etwas geräucherten Fisch, Roggenbrot oder Wein einzukaufen.
Ihre Mutter schrieb aus Ruanda – Chrysalie zog die Post mit einem Körbchen an einer Leine hinauf. Ihre Bewegungen wurden träger, die Reaktionen verlangsamten sich und es kam der Tag, an dem ihre Finger nicht einmal mehr den Kohlestift halten konnten. In der darauffolgenden Nacht träumte sie von einem Kokon aus Bronzefäden, in dem sie matt verglühte.
Nur mühsam konnte sie am nächsten Morgen die Augen öffnen, an Aufstehen war fast eine Stunde lang gar nicht zu denken. Sie wollte den Turm verlassen, ein Haus an der Küste oder auf der Insel Poel mieten, aber was würde dann aus ihrer Enzyklopädie werden? Nein, Chrysalie wollte ihre Arbeit zu Ende bringen, konnte aber oft nur noch ihre Hand aus dem Turmfenster halten, als wäre sie ein polynesischer Navigator, der die Meeresdünung prüft, um mit den Wellenmustern die Position seines Schiffes zu bestimmen.
Die wenigen Nachtfalter, die noch hereingetaumelt kamen, waren ausgezehrt und entkräftet. Mit sparsamen Handgriffen bereitete sie ihnen Honigwasser zur Stärkung und bemerkte dabei rätselhafte Glyphen auf ihren Flügeln, die wie mit Safranstaub aufgepinselt wirkten.
Eines Morgens fand sie die Wacholderdrossel, die schon seit geraumer Zeit nicht mehr sang, am Boden des Käfigs mit weitaufgerissenem Schnabel: verendet bei ihrer letzten Anstrengung, gegen das eigene Schweigen anzusingen. Der Winter kam, und sie unterbrach ihre eigentliche Arbeit, um die Schriftzeichen, die sie auf einigen der Falter gefunden hatte, zu entschlüsseln. In diesen Nächten stand der Mond wie festgenagelt am Himmel, die Schneeflocken bildeten einen eisigen Spitzenvorhang vor ihrem Fenster und die Sterne funkelten nicht mehr. Chrysalie hatte die Botschaft endlich entziffert.
Die traurigen Blütenstaubworte kamen vom königlichen Hüter der Bienen, der seine Verzweiflung auf Falterflügeln in die Nacht hinausgeschickt hatte. Eine Seuche hatte seine Völker ausgerottet: ihre Brut war verfault; und auf der Tafel des Königs von England fehlte seither der Honig.
Chrysalie weinte ruhig, als sie die Botschaft begriff, und wollte dem Hüter antworten. Doch sie war erschöpft von dem langen Winter und fiel in einen dunklen, traumlosen Schlaf, der ihr die Seele heraussog .
Als sie wieder aufwachte, sangen die Lerchen, und Motten hatten Nester in ihrem Haar gebaut. Sie stand auf, rasierte sich den Schädel und packte ihr Bündel.
Dann verließ sie den Turm für immer.
ElsaLaska - 17. Dez, 21:00
















