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Verkündigung
Die Worte des Engels
Du bist nicht näher an Gott als wir;
wir sind ihm alle weit.
Aber wunderbar sind dir
die Hände benedeit.
So reifen sie bei keiner Frau,
so schimmernd aus dem Saum:
ich bin der Tag, ich bin der Tau,
du aber bist der Baum.
Ich bin jetzt matt, mein Weg war weit,
vergieb mir, ich vergaß,
was Er, der groß in Goldgeschmeid
wie in der Sonne saß,
dir künden ließ, du Sinnende,
(verwirrt hat mich der Raum).
Sieh: ich bin das Beginnende,
du aber bist der Baum.
Ich spannte meine Schwingen aus
und wurde seltsam weit;
jetzt überfließt dein kleines Haus
von meinem großen Kleid.
Und dennoch bist du so allein
wie nie und schaust mich kaum;
das macht: ich bin ein Hauch im Hain,
du aber bist der Baum.
Die Engel alle bangen so,
lassen einander los:
noch nie war das Verlangen so, so
ungewiss und groß.
Vielleicht, dass Etwas bald geschieht,
das du im Traum begreifst.
Gegrüßt sei, meine Seele sieht:
du bist bereit und reifst.
Du bist ein großes, hohes Tor,
und aufgehn wirst du bald.
Du, meines Liedes liebstes Ohr,
jetzt fühle ich: mein Wort verlor
sich in dir wie im Wald.
So kam ich und vollendete
dir tausendeinen Traum.
Gott sah mich an; er blendete...
Du aber bist der Baum.
[Rainer Maria Rilke]
ElsaLaska - 26. Mär, 14:04
Und hierzu noch ein Rilke:
> Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn),
> erschreckte sie. Sowenig andre, wenn
> ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht
> in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,
> auffahren –, pflegte sie an der Gestalt,
> in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;
> sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt
> mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten,
> wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht,
> die, liegend, einmal sie im Wald eräugte,
> sich so in sie versehn, daß sich in ihr,
> ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte,
> das Tier aus Licht, das reine Tier –,)
> Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht,
> der Engel, eines Jünglings Angesicht
> so zu ihr neigte; daß sein Blick und der,
> mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen
> als wäre draußen plötzlich alles leer
> und, was Millionen schauten, trieben, trugen,
> hineingedrängt in sie: nur sie und er;
> Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide
> sonst nirgends als an dieser Stelle –: sieh,
> dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.
>
> Dann sang der Engel seine Melodie.
(aus: Marienleben)